Tee in Marokko
Tee in Marokko
von Abderrahmane LAKHSASSI
Minztee ist das Nationalgetränk der Marokkaner. Bei uns zu Hause war es üblicherweise meine Mutter, die den Tee bereitete - außer wir hatten Gäste. Dann übernahm mein Vater diese Aufgabe. Er pflegte das Teetablett vor seinem Lieblingsgast zu plazieren, um ihm damit Ehre zu erweisen. Während großer Feierlichkeiten, wie Hochzeiten, wird ein Teemeister von der Gemeinschaft bestimmt. Ausgewählt zu werden, bedeutet hohen Prestigegewinn. In meiner Heimatstadt kenne ich jemanden, der die Feierlichkeit sofort verlassen würde, wenn nicht ihm das Teeritual überlassen wird. Zu allen Zeiten des Tages und bis in die späten Abendstunden hinein bereitet, kann ein guter Minztee zum Frühstück gereicht werden oder auch als Digestiv nach dem Essen. Nicht selten ist er ein geeigneter Vorwand zu einer Pause für Klatsch und Tratsch.
Traditionell wird der Tee vor den Gästen nach einem bestimmten Ritual zubereitet. Wer damit betraut ist, sitzt am Boden auf einem Teppich. Von zwei Teetabletts umgebeben, wird er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auf dem großen Tablett stehen zwei Teekannen und Gläser, normalerweise mehr als gebraucht werden. Auf dem kleinen finden wir silberne Kästchen für Tee, Minze, Zucker, vorzugsweise in großen, vom Zuckerhut gebrochenen Stücken und einen kleinen Silberbecher mit einem Löffel. Manchmal wird ein Samowar statt eines Kessels verwendet.
Der "Meister des Teetabletts" als bu-ttabla bekannt, beginnt damit, die Teekannen mit kochendem Wasser auszuspülen. Er gibt zwei oder drei Löffel grünen Tee in die Kanne. Nachdem er den Tee gespült hat, um ihm das Bittere zu nehmen, gibt er frische, vorher gereinigte Minze dazu, darauf Zucker und gießt kochendes Wasser darüber. Dann muß der Tee ein Paar Minuten ziehen. Manchmal wird die Kanne mit einem bestickten Tuch bedeckt. Währenddessen hat der bu-ttabla die Gäste zu unterhalten und zu erheitern. Sobald der Tee fertig ist, gießt er ein wenig davon zum Kosten in ein Glas. Wenn nötig, gibt er noch Zucker dazu. Der Vorgang, Tee in Gläser zu gießen und wieder in die Kanne zurückzuschütten wird wiederholt bis der Tee den gewünschten Geschmack hat. Mit gewandten Gesten bedient der "Meister des Teetabletts" sodann die Gäste: hoch aus der Luft ergießt sich der Strahl aus der Kanne in die Gläser, auf dem heißen Getränk muß sich reichlich Schaum bilden.
Der Ehrengast probiert mit sachtem Schlürfen den sehr heißen und schon gezuckerten Tee. Dann wird von ihm erwartet, daß er dem Meister zu seinem Tee gratuliert - wenn er ihm schmeckt. Schweigen nach dem ersten Schluck wird als Mißbilligung verstanden. Für den bu-ttabla eine ernsthafte Niederlage. Aber wenn er b-saht-k "auf Dein Wohl" hört, ist er zufrieden und macht sich mit einem Lächeln auf den Lippen an die Zubereitung der zweiten Kanne. Die Tradition verlangt, daß man den Teemeister ehrt, indem man mehr als ein Glas annimmt aber weniger als vier. Den Tee ganz zu verweigern, wäre gleich einem Dolchstoß in den Rücken.
Das Teezeremoniell ist ein Braucht, der tief im Boden des marokanischen Volkslebens wurzelt. Jeder, den man auf der Straße befragte, seit wann in Marokko Tee getrunken wird, wird naiv und ohne zu zögern antworten: "seit jeher". Und doch wurde Tee der Mehrheit der marokkanischen Bevölkerung erst Ende des letzten Jahrhunderts bekannt. Davor hatten nur der Königshof und seine Umgebung Zugang dazu.
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Als Kind hörte ich gerne der Berbermusik auf dem Markt zu. Liedertexte die Tee und Liebe miteinander verbinden sind gängig. Ich erinnere mich noch an einige, wie A mad righ atay igh ur yujad / Ameddakwl a yilyi gh-tama n wafud, das bedeutet "Für was ist der Tee da, wenn nicht / Für den Freund, der mir nahe gegenüber sitzt!" Oder diese anderen Verse: fulki bdda watay igh sers nga sin / Imma krad ula smmus ur sil igi atay, was soviel heißt wie "Tee für uns beide ist immer süß / Aber wenn wir mehr sind, ist der Tee kein Tee mehr", was mich an den bekannten amerikanischen Song aus den Zwanzigern erinnert: Tea for Two and Two for Tea".
Wie in Europa war das Aufkommen des Tees begleitet vom Erscheinen medizinischer Traktate, die seine Vorzüge priesen. Wußten Sie, daß die erste Teereklame am 30. September 1658 erschien? Die Veröffentlichung in England und wurde von Ärzten unterstützt. Der marokkanische Mythos, der die Herkunft des Tees erklärt, bezieht sich ebenfalls auf seine Heilkraft. Der erste Teetrinker, so weiß es die Legende, war Moulay Zaydan, Sohn des Herrschers Moulay Isma'il. Er war ein Säufer und um ihn vom Alkoholismus zu heilen, habe ein Englischer Arzt ihn dazu gebracht, nach und nach statt des Weines Tee zu trinken.
Sonderbarer noch ist die Verbindung, die zwischen Tee und Lendenkraft hergestellt wird. Die ersten medizinischen Studien attestieren dem Tee aphrodisierende Wirkung. Später wurden diese Kräfte dem Tee zugegebenen Substanzen, wie etwa Amber, zugesprochen. Es gibt einen bekannten Witz über den marokkanischen Mann und die Teekanne. Jemand hat einmal vorgeschlagen das Pentagramm auf der marokkanischen Fahne durch eine Teekanne zu ersetzen. Als der Mann nach dem Grund seines Vorschlages gefragt wurde, sagte er: "Schaut Euch die Teekanne an, sie ist kurz und hat einen dicken Bauch. Außerdem ist ihr Rüssel in ständiger Bereitschaft. Ist das nicht wie beim typischen marokkanischen Mann?" Das kommt vielleicht von zuviel Amber im Tee.
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Der erste Hinweis auf dieses Getränk in Marokko stammt von einem Engländer namens Thomas Pellow von Penryn. Pellow verbrachte 23 Jahre in Marokko, zuerst als Gefangener, dann als Soldat. In seinen Abenteuern (1740 in London veröffentlicht) können wir nachlesen, daß der Kapitän eines Schiffes "two bottles of superiour english [Gun] Powder" für Moulay Isma'il (1675-1727) reseviert hatte. Bis vor kurzem war ein Pfund englischer Gunpowder eines der begehrtesten Geschenke, das man einem Marokkaner machen konnte. Wir nennen ihn atay lwindriz, das bedeutet "Londoner Tee". Britische Behörden und Diplomaten wußten wohl, wie sehr der "Tee aus London" dem marokkanischen Gaumen schmeichelt. Selbst Queen Anne (1665 - 1714) dachte, daß "zwei große kupferne Teeküchen und ein wenig feiner Tee" genau das Richtige seien, um den Marokkanischen Herrscher gnädig zu stimmen. In der Tat war Mulay Isma'il bis dahin immer unwillig gewesen, 69 englische Kriegsgefangene freizugeben.
So hat es mit dem grünen Tee in Marokko angefangen. Da war er als rares Gut noch dem Hof und diplomatischen Kreisen vorbehalten. Mit dem 19. Jh. konnten sich auch reiche Städter den Tee leisten. Eine Folge der britischen Übernahme des Teehandels Marokkos. Der Krimkrieg von 1854, gefolgt von der Blockade des Baltikums, die den englischen Handelsleuten den Zugang zu den slavischen Ländern versperrte, zwang die Briten neue Konsumenten für ihren Teehandel zu finden. Wahrscheinlich über Gibraltar wurden die Läden in Tanger und Mogador mit chinesischem grünen Tee aus London überflutet.
Englische Kaufleute waren aktive Unternehmer in den südlichen Küstenstädten wie Mogador, das heute als Tassourt oder Essaouira bekannt ist. Nachdem ein Handelsvertrag mit den Stammeshäuptern des Sûs, südlich von Agadir, geschlossen war, gründeten sie eine Handelsgesellschaft mit dem Namen The Sûs and North African Trading Co., Ltd. Im Februar 1883 setzte die neue Gesellschaft einen Dampfer namens Garrawalt ein, der seine Ladung Korn, Zucker und Tee an die Küste von Ayt Ba'mran brachte. Die Güter wurden gegen Gewürze, Schmuck, Ziegenfelle, Wachs, Wolle und Staußenfedern getauscht. Sofort nach dem Entladen des Dampfers organisierte Sultan Hassan I eine Expedition in das Gebiet. Dieses historische Ereignis hat möglicherweise einen der interessantesten Texte über das Getränk inspiriert. Die Geschichte des Tees ist ein Gedicht, das Brahim N'Ayt Ikhelf 1895 in Berbersprache verfaßt hat. Es ist in der Tat jenes Gedicht, das Prof. Sebti und mich zuerst dazu gebracht hat, die Arbeit an einem Buch über den Tee aufzunehmen, das dem Gedenken von N'Ayt Ikhelf selbst gewidmet ist.
Mit Beginn dieses Jahrhunderts hatte sich der Tee im ganzen Land, sogar in den Bergen, ausgebreitet. Während unserer Feldforschung zum Tee im Atlasgebirge trafen wir Alte, die sich noch daran erinnern konnten, wie zum ersten mal in ihrem Dorf Tee getrunken wurde. Im ganzen Land gaben Adelige und Würdenträger, Prinzen und Hochrangige ein Vermögen dafür aus, den teuren atay lwindriz und andere Zutaten wie Amber aber auch exklusive Teeutensilien, wie Silbertablett, Kanne, Kessel, Samowar, Tee- und Zuckerschatullen zu beschaffen. Die bekannteste und prestigieuseste Geschirrmarke wird in Manchester von Richard Wright hergestellt.
Die Handelsbeziehungen zwischen Manchester und Marokko erreichten ihren Gipfel im 19. Jh. Einige Familien aus F es haben sich sogar dort niedergelassen. Tee und Teeutensilien waren die Säulen dieser Handelsvebindung. Ich erinnere mich noch, zur Zeit als ich dort Doktorand war, an den Besuch eines Freundes, der mit seinen Geschäftspartnern nach Manchester gekommen war, um eine Kornverarbeitungsfabrik zu kaufen. Ich arbeitete damals als Englischdolmetscher. Das einzige, was ihn außer dem Geschäft in Manchester interessierte, war ein Richard Wright tea set. Nach einer Reihe von Telefongesprächen fand ich heraus, daß die Firma vor langer Zeit dicht gemacht hatte. Als wir nach London zurückkamen, wollte eine Freundin, Janet Saint-John-Austen, die Besucher zu einigen Sehenswürdigkeiten der Welthauptstadt des 19. Jh,. führen. Keine Chance! Mein Freund war völlig desinteressiert, es sei denn, auf magische Weise würde die Fabrik von Richard Wright nach London transferiert. Seine Besessenheit vom Wright Teegeschirr hatte uns alle aufgebracht. Wir haben ihm nichts von der Existenz eines Flohmarktes in London erzählt.
Welch eine Enttäuschung für den reichen Geschäftsmann ohne ein Richard Wright tea set nach Hause zurückkehren zu müssen. Jetzt muß er sich damit zufrieden geben, auf den Böden der Teekannen seiner Freunde oder vielleicht in einem marokkanischen Museum Richard Wrights Siegel mit der maghrebinisch-arabischen Inschrift lesen zu dürfen: hadha 'amal al-t, jir ritchar al-rite. Ich vermute, daß diese Enttäuschung einer der Gründe war, warum er die englische Mühle nicht gekauft hat, sonder sich stattdessen für ein italienisches Modell entschieden hat. Hätte es Richard Wrights Fabrik noch gegeben, würden wir heute vielleicht an der Einfahrt nach Tiznit in Südmarokko, auf der linken Staßenseite, wenn man von Agadir kommt, das höchste Gebäude mit englischer Hochtechnologie ausgerüstet sehen. Der ganze Süden, einschließlich der Sahara, würde mit Mehl versorgt und ernährt, das mit Manchester-know-how und nicht mit italienischer Technik gemahlen wird.
Vor zwei Jahren habe ich den Geschäftsmann am Strand von Agadir wiedergetroffen. Er schien mir geschrumpft zu sein und es war ihm ein dicker Bauch gewachsen. Wie eine Richard Wright Teekanne. Über den Rest weiß ich nichts. Fragt seine Frau. Und natürlich, er beschrieb sein Abenteuer in Manchester immer noch als ein großes Desaster, eine Tragödie.
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In seinen Kuriositäten der Literatur (1790) schieb Isaac D'Israeli über den Tee in England:"Der Fortschritt dieser bedeutsamen Pflanze ist vergleichbar mit dem Fortschritt der Wahrheit; verdächtig zuerst und dennoch äußerst schmackhaft all jenen, die den Mut hatten, sie zu kosten, ihr wurde Widerstand entgegengebracht als sie aufkam, sie wurde mißbraucht als sich ihre Beliebtheit auszubreiten schien, um letzlich doch siegreich das ganze Land zu beglücken, vom Palast bis in die Hütte, das alles nur aufgrund des langsamen und unwiderstehlichen Laufes der Zeit und ihrer eigenen Tugenden."
Von einem langen Marsch des Tees wie in England kann man auch in Marokko sprechen. Seit dem 19. Jh. hat sich grüner Tee aus England ausgebreitet. Sein Siegeszug gipfelte in den dreißiger Jahren. Heute hat er Eingang in die luxuriösesten Hotels des Landes gefunden. Ich war überrascht, als ich letzten Sommer im Sheraton Hotel in Marrakech gleich zu meiner Ankunft Minztee serviert bekam. Für mich war Tee bis dahin immer ein Familienzeremoniell. Einen solchen häuslichen Brauch in den Tourismusbereich zu bringen, ist vielleicht ein Versuch, ein sterbendes Kulturelement zu retten, das einen vollen Lebenszyklus durchlaufen hat. So ist das Leben - wie der Tee - ein Kreis.